Die Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde besteht am 12. Juni 2016 sechzig Jahre. Mit mehr als 60.000 Besuchern jährlich kann die an der deutsch-dänischen Grenze beheimatete private Stiftung erfolgreich auf ihre 60jährige Tätigkeit zurückblicken: insgesamt besuchten bisher mehr als 4,2 Mio. Menschen das Museum mit den jährlich wechselnden Ausstellungen, um das von Ada und Emil Nolde geschaffene Gesamtkunstwerk zu erleben. Die Stiftung unterstützt und veranstaltet weltweit vielbeachtete Ausstellungen und hat zahlreiche Publikationen zu Leben und Werk Emil Noldes herausgegeben.
In der Vergangenheit gab es aber auch Fehleinschätzungen. Legendenbildungen wurden gefördert, ohne die Widersprüche in der Biographie von Emil Nolde hinreichend darzustellen. Seit Langem ist bekannt, dass Emil Nolde 1934 als dänischer Staatsangehöriger Mitglied der Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft Nordschleswig wurde. Neu ist aber, dass Emil Nolde, obwohl ab 1937 als „entarteter“ Künstler verfemt und 1941 mit Berufsverbot belegt, bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches Anhänger des NS-Regimes blieb. Das belegen erste Ergebnisse einer von der Nolde Stiftung unterstützten historischen Studie über die Verbindungen Emil Noldes zum Nationalsozialismus. Darin wird auch auf die unzureichende Aufklärungsarbeit der Stiftung in den vergangenen Jahrzehnten verwiesen. Erst 2013 haben das Kuratorium und der damals neue Direktor Dr. Christian Ring damit begonnen, die Archive in Seebüll zu öffnen.
Die Stiftung sieht sich in der Verpflichtung, in der Vergangenheit entstandene Fehleinschätzungen um die Person Emil Noldes als Phänomen deutscher Nachkriegsverdrängung aufzuklären. Des Weiteren sollen neue Erkenntnisse und Rückschlüsse in die wissenschaftliche Aufarbeitung des umfangreichen Werkes eines der wohl bekanntesten deutschen Expressionisten eingebracht werden.
Die Stiftung wird alles tun, um die Person Emil Noldes authentisch und differenziert darzustellen und sein umfangreiches Schaffen aufschlussreich und zeitgemäß zu präsentieren.
» PDF-Download der kommentierten Biografie „EMIL NOLDE 1867-1956 DER KÜNSTLER IM NATIONALSOZIALISMUS“
Aktuelle Forschung
Die Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde unterstützt seit 2013 uneingeschränkt die Forschung zum Verhalten Emil Noldes im Nationalsozialismus und die Untersuchung ihrer eigenen historischen Rolle in der Lenkung von Noldes Bild in der Öffentlichkeit.
Im Folgenden geben die Forscher Aya Soika, Professorin für Kunstgeschichte am Bard College Berlin, und Bernhard Fulda, Historiker am Sidney Sussex College, Cambridge, eine kurze Übersicht über die aktuellen Ergebnisse ihrer Untersuchungen.
Nach dem großen Publikumsinteresse 2019 an der Ausstellung Emil Nolde – der Künstler im Nationalsozialismus. Eine deutsche Legende in Berlin mit rund 150.000 Besuchern setzt Bernhard Fulda die Forschung fort. Geplant ist die Veröffentlichung der weiteren Ergebnisse in einer Nolde-Biographie.
Bernhard Fulda und Aya Soika
Emil Nolde im Nationalsozialismus: eine kurze Übersicht der neuen Forschungsergebnisse
In einem langjährigen Forschungsprojekt werten wir, der Historiker Bernhard Fulda und die Kunsthistorikerin Aya Soika, seit 2013 den Nachlass von Emil und Ada Nolde im Archiv der Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde aus. Das Konzept der viel beachteten Ausstellung Emil Nolde – der Künstler im Nationalsozialismus. Eine deutsche Legende der Nationalgalerie Berlin im Hamburger Bahnhof von April bis September 2019 mit rund 150.000 Besuchern fußt auf den bisher erzielten Ergebnissen. Der begleitende zweibändige Katalog analysiert in Band 1 den Forschungsstand und ergänzt in Band 2 wichtige Dokumente, die kommentiert werden.1
Neu gestellt wurde die Frage nach der Beziehung zwischen Noldes Kunstschaffen und der Rezeption seiner Kunst während der NS-Zeit. Schon vor der Ausstellungseröffnung entbrannte eine Debatte, ausgelöst von der Entscheidung der Bundeskanzlerin Angela Merkel, zwei Gemälde Emil Noldes aus dem Bundeskanzleramt zu entfernen, darunter eine Seelandschaft aus dem Jahr 1936. Das Gemälde Brecher, das seit 2006 als Leihgabe der Berliner Nationalgalerie im Büro der Bundeskanzlerin hing, steht exemplarisch für Noldes Rolle innerhalb der deutschen Moderne, für die Beziehung von Kunst und Künstler, und nicht zuletzt auch für den zukünftigen Umgang mit Noldes Werk angesichts des nun erstmals umfänglich dokumentierten Antisemitismus des Künstlers.
Einige der neu gewonnenen Erkenntnisse zu Noldes Biografie und dem Verständnis von seinem Kunstschaffen sollen im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden. Eingangs sei auch darauf hingewiesen, dass Noldes Sympathien für den Nationalsozialismus an sich keine Neuigkeit darstellen. Noldes zweiter Memoirenband Jahre der Kämpfe, im Herbst 1934 erschienen, war seit seiner Veröffentlichung durchgängig in der Originalfassung in Antiquariaten zu erwerben und in Bibliotheken einzusehen. Seit den 1990er-Jahren sind eine Reihe von Beiträgen erschienen, die sich explizit mit Noldes Haltung im Nationalsozialismus beschäftigen. Bereits 2014 thematisierte eine Retrospektive in Frankfurt am Main und in Kopenhagen diesen Aspekt und erhielt große mediale Aufmerksamkeit.2 Wer Noldes Rolle in den Jahren von 1933 bis 1945 kritisch hinterfragen wollte, konnte dies schon zuvor tun, auch ohne Zugang zu den von der Nolde Stiftung bis 2013 unter Verschluss gehaltenen Quellen.3
Dennoch dürfen die im Rahmen der Ausstellung präsentierten Erkenntnisse durch das bereits Geleistete keinesfalls als bereits bekannt relativiert werden. Die im Laufe des mehrjährigen Forschungsprojekts gewonnenen Einsichten sind weitaus umfassender und tiefgreifender. Zentrale Aussagen und Zusammenhänge waren aufgrund des fehlenden Zugangs zu den Quellen bislang gänzlich unbekannt und erst mit der Öffnung des Archivs wurde die systematische Erschließung relevanter Korrespondenzen möglich. Folgende thematische Forschungsschwerpunkte kristallisierten sich heraus:
• die Bedeutung von Noldes Autobiografie innerhalb der Konstruktion von Noldes Künstlertum
• die Genese der Werkkategorie der ›Ungemalten Bilder‹, die zu einem zentralen Nolde-Mythos der bundesrepublikanischen Kunstgeschichtsschreibung wurden
• die Haltung des Ehepaars Nolde zum Judentum und ihr Antisemitismus
• ihre weltanschauliche Deutung des Zweiten Weltkriegs.
Ermöglicht wurde die Aufarbeitung durch externe Förderungen der Alexander von Humboldt Stiftung und der Gerda Henkel Stiftung sowie eines David Thompson Senior Research Fellowships des Sidney Sussex College, Cambridge, für Bernhard Fulda und durch die Einräumung zweier Forschungsfreisemester durch das Bard College Berlin für Aya Soika.
Die Ausgangslage: Nolde, ein Opfer der NS-Kunstpolitik
Zusammenfassend kann Noldes Sonderstellung im Nationalsozialismus in etwa so beschrieben werden: Der Expressionist Emil Nolde (1867–1956) ist der wohl berühmteste ›entartete Künstler‹. Von keinem anderen Maler wurden während des Nationalsozialismus so viele Arbeiten beschlagnahmt (über 1000 Werke) und derart prominent auf den ersten Stationen der Propaganda-Ausstellung Entartete Kunst zur Schau gestellt (über 30 Gemälde). Gleichzeitig war Nolde seit Mitte September 1934 Mitglied der nationalsozialistischen Partei und verlor bis zum Kriegsende seinen Glauben an das NS-Regime nicht.4
Nachdem der Künstler im August 1941 aus der Reichskammer der bildenden Künste ausgeschlossen worden war und ein Ausstellungs-, Verkaufs- und Publikationsverbot erhalten hatte, beschrieb seine Frau Ada im Januar 1942 den Widerspruch, den sie in der Verfemung ihres Mannes angesichts seiner Loyalität dem neuen Staat gegenüber erkannte: »Der deutscheste, germanische, treueste Künstler ist ausgeschlossen. Es ist der Dank für seinen Kampf gegen die Überfremdung und die Juden, der Dank für seine große Liebe zu Deutschland, trotzdem es ihm, durch die Abtretung Nordschleswigs so leicht gewesen wäre, sich ins andere Lager zu schlagen. Es ist aber hauptsächlich der Dank für seine große Kunst, der er sein Leben gewidmet hat. Es ist der Dank für seine Zugehörigkeit zur Partei, in der er, trotz vieler Fehler, doch die Lösung der Volksprobleme sieht.«5
Tatsächlich war die politische Überzeugung Noldes so stark, dass die persönliche Erfahrung der Zurücksetzung durch die Reichskunstkammer seine Parteitreue nicht erschüttern konnte. Die in Kunstkreisen bekannte nationalsozialistische und antisemitische Ausrichtung des Ehepaars führte dazu, dass der Kunstkritiker Adolf Behne den Maler anlässlich seines 80. Geburtstags 1947 in einer Berliner Tageszeitung pointiert als »entarteter ›Entarteter‹« bezeichnete.6 Doch war Behne mit seiner öffentlichen Positionierung eine Ausnahme. Nolde wurde in den Jahren nach Kriegsende in der Öffentlichkeit in erster Linie als verfolgter Wegbereiter einer neuen deutschen Kunst und als Opfer der NS-Kunstpolitik wahrgenommen. Zu seinem 79. Geburtstag – ein Jahr vor Behnes Zwischenruf – war ihm eine Ehrenprofessur verliehen worden; kurz danach, am 13. August 1946, war die offizielle Entlastung im Rahmen des für ehemalige NSDAP-Parteimitglieder obligatorischen Entnazifizierungsverfahrens erfolgt. Dabei wurde die Ablehnung von Noldes Kunst durch den NS-Staat als »Absage gegen das Regime« gewertet.7
Anhand der autobiografischen Schriften des Künstlers und anderer Korrespondenzen zeichnen die Beiträge im Ausstellungskatalog eindrücklich nach, wie die komplexe Rolle Noldes im Nationalsozialismus nach dem Krieg durch Auslassungen und Ergänzungen – unter Beteiligung einer Reihe von Kunsthistorikern und einflussreichen Bekannten aus dem Kreis des Künstlers – in eine Heldenerzählung verwandelt wurde. 8 Der Künstler diente als Projektionsfläche der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die für den kulturellen Wiederaufbau Identifikationsfiguren und eine ›gute‹ Moderne brauchte.
So setzte sich in den Jahrzehnten nach Kriegsende eine einseitige Betonung von Noldes Opferstatus im ›Dritten Reich‹ durch. Nolde selbst hatte an dieser Erzählung maßgeblichen Anteil. Seine handschriftlichen Vorarbeiten zum Memoirenband Reisen, Ächtung, Befreiung veranschaulichen die Entwicklung und Dramatisierung des eigenen Verfolgungsnarrativs. Zum Beispiel dichtete er den Besuch eines kunstliebenden Gestapo-Beamten im Winter 1940/41 – also vor Verhängung des Berufsverbots – zu einem Gestapo-Kontrollbesuch um.9 Nach Noldes Tod 1956 verfestigte sich die Erzählung des verfolgten Künstlers, während Verweise auf seine Sympathien zum Nationalsozialismus und auf seinen Antisemitismus nach Möglichkeit entfernt wurden. So wurden 1958 in der Neupublikation von Jahre der Kämpfe verschiedene antisemitische Passagen gestrichen. Bei der Publikation von Noldes Südseereise-Memoiren, Welt und Heimat (1965), und seiner Darstellung der Jahre des Nationalsozialismus, Reisen, Ächtung, Befreiung, die zum 100. Geburtstag des Künstlers 1967 erschienen, nahm der damalige Stiftungsdirektor Joachim von Lepel zusammen mit Karl Gutbrod, Leiter des Verlags DuMont Schauberg, eine Reihe von inhaltlichen Änderungen vor, um – wie im Nachwort beschönigt wurde – »gewisse Stellen, die durch die geschichtliche Entwicklung überholt wurden […] zu eliminieren«.10
Öffentliche Verbreitung fand der so entstandene Nolde-Mythos nicht zuletzt durch die literarische Bearbeitung in dem Roman Deutschstunde (1968) von Siegfried Lenz, der Noldes Berufsverbot überformte. Bereits anlässlich einer Lesung aus dem Roman-Manuskripts vor der Gruppe 47 notierte Lenz‘ Kollege Günter Kunert: „Großer Beifall für SL, der aus der Deutschstunde vorträgt, und ich bin vom dem ins Erzählerische transportierten Schicksal Emil Noldes ungemein beeindruckt.“ 11 Lenz übernahm die Schilderung von Noldes Verfolgung als „historischen“ Stoff, dürfte sich jedoch nicht bewusst gewesen sein, dass die tatsächliche Situation des Malers im Nationalsozialismus gravierend von dem abwich, was in Noldes Autobiografie oder in Werner Haftmanns Nolde-Bänden nachzulesen war. Der Roman trug dazu bei, dass Nolde endgültig zur Personifizierung eines verfolgten Künstlers der Moderne im Widerstand gegen die NS-Diktatur wurde.
Eine wirkungsmächtige Erzählung: die ›Ungemalten Bilder‹
Noldes ›Ungemalte Bilder‹ sind ein zentraler Bestandteil des Mythos, der sich im Laufe der 1960er-Jahre verfestigt hatte und der aufs Engste mit dem bereits geschilderten Narrativ von Verfolgung und innerem Widerstand verknüpft ist. Nolde erfand in seinen Memoiren Reisen, Ächtung, Befreiung für seine ›Ungemalten Bilder‹ – kleinformatige Aquarelle, die erst nachträglich als Werkgruppe zusammengefasst wurden – die Erzählung, sie seien während des »Malverbots«, »heimlich«, in einem »kleinen halbversteckten Zimmer« entstanden.12 Einige Jahre nach Noldes Tod, ausgerechnet zu der Zeit der zunehmenden öffentlichen Auseinandersetzung mit dem von Deutschen verantworteten Völkermord an den europäischen Juden, wurde die Erzählung des ungebrochen kreativ schaffenden, widerständigen Künstlers in die Öffentlichkeit getragen. Wie kam es zur erfolgreichen Verbreitung dieser Erzählung, auf die zahlreiche Autoren und Ausstellungen bis vor Kurzem noch verwiesen?
Die von Emil und Ada Nolde testamentarisch begründete Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde beauftragte in den 1950er-Jahren den Kunsthistoriker Werner Haftmann – später erster Direktor der Neuen Nationalgalerie, Berlin – für einen geplanten Bildband Begleittexte zu verfassen. In seiner Publikation Emil Nolde von 1958 führte Haftmann Noldes Selbsterzählung wortgewaltig aus und popularisierte dabei auch die (bis dahin unveröffentlichte) Geschichte der angeblichen Entstehung der ›Ungemalten Bilder‹.13 Ab 1961 wurden die kleinen Aquarelle vermehrt in Deutschland und im Ausland ausgestellt und erregten auch wegen der sie einrahmenden Erzählung des angeblichen ›Malverbots‹ großes Presse- und Publikumsinteresse. 1963 erschien ein weiterer Bildband von Haftmann, Emil Nolde – Ungemalte Bilder, der 40 der kleinformatigen Aquarelle mit 70 ausgewählten ›Worten am Rande‹ (eine Sammlung von Aphorismen des Künstlers) zusammenführte.
Um die Konstruktion dieser Erzählung im Detail zu verstehen, skizziert Bernhard Fulda im Ausstellungskatalog auch die historische Genese der Verwendung des Begriffs der ›Ungemalten‹ und ergänzt diese um eine Betrachtung der malerischen Praxis Noldes.14 Tatsächlich übertrug Nolde Zeit seines Lebens besonders gelungene Aquarelle und andere kleinformatige Vorlagen in Öl. In der Regel unterscheiden sich die motivähnlichen Gemälde von den zugrundeliegenden Papierarbeiten. Ab 1936 lassen sich im malerischen Werk Noldes fast sämtlichen Figurengemälden jeweils motivgleiche Aquarelle zuordnen, die als Bildentwürfe dienten. Dazu kommt, dass Nolde ab 1937/38 als technisches Hilfsmittel ein Epidiaskop nutzte, einen Projektionsapparat, um Aquarellvorlagen auf die Leinwand zu projizieren – auch dies eine neue Erkenntnis.15 Die Bezeichnung der kleinen Aquarelle, die er dazu verwendete, wurde von Nolde über Jahre entwickelt: Zunächst waren es seine »kleinen Farbenzeichnungen« und »kleinen Blätter«, die er ab 1931 den Vorzugsausgaben seiner Memoiren beifügte.16 Sein Berliner Kunsthändler Ferdinand Möller verkaufte während der beiden Einzelausstellungen 1934 und 1937 zahlreiche dieser Luxusausgaben. In den Folgejahren benannte Nolde diese Blätter auch als »Bildideen«, »Bildentwürfe« und »Bildskizzen«, bis sich schließlich die Bezeichnung »Ungemalte Bilder« durchsetzte.17 Dieser Begriff bezog sich zunächst auf ihre Funktion als Bildvorlagen – erst später wurde daraus die Erzählung, sie seien ausschließlich in der Zeit der Verfolgung im Verborgenen gemalt. In ihrer ursprünglichen Bedeutung beschrieb der Soldat Dieter Hohly die kleinen Aquarelle in einem Bericht über seinen Besuch in Seebüll im Februar 1942: »Eines Abends legte mir N. eine kleine Mappe vor, Aquarelle, alles Figurenbilder, in kleinen Formaten. Es waren seine Bildentwürfe, seine ungemalten Bilder. Manche sind inzwischen zu großen Bildern weitergewachsen. Sie waren alle in den letzten Jahren entstanden. Ich saß viele Stunden über diesen Blättern, sie wurden mir das Schönste.«18
Im Gegensatz dazu behauptete Nolde nach dem Zweiten Weltkrieg von den ›Ungemalten Bildern‹, er habe sie in der Zeit von Verfemung und Berufsverbot »heimlich« gemalt.19 Abgesehen von der Tatsache, dass viele der kleinen Aquarelle in den Jahren vor Verhängung des Berufsverbots (August 1941) entstanden waren, ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass Nolde im abgeschiedenen Seebüll auch nach dem Sommer 1941 kontinuierlich künstlerisch arbeiten konnte, ein ›Malverbot‹ bestand nicht. Auch dies muss betont werden, da der umgangssprachliche Gebrauch dieses missverständlichen Terminus zum Narrativ des ›heimlichen‹ Malens beigetragen und in zahlreichen Abhandlungen über Nolde zu falschen Interpretationen geführt hat.20 Allerdings war Nolde nach seinem Reichskunstkammer-Ausschluss im August 1941 der offizielle Bezug von Malmaterialien nicht mehr möglich.21 Nolde widmete sich intensiv dem Medium des Aquarells und beschränkte sich bei seiner Arbeit in Öl in den Kriegsjahren auf das Überarbeiten älterer Werke und auf die Komposition weniger unverfänglicher Blumengemälde. Diese hätte er auf Anforderung der Reichskunstkammer vorlegen können, um eine Aufhebung des Berufsverbots zu erwirken – wozu es allerdings nicht kam.22
Nachgehakt: Verfemung und ›Malverbot‹
Eng verbunden mit der Erzählung der ›heimlich‹ gemalten und daher widerständigen ›Ungemalten Bilder‹ ist die Betonung der Diffamierung und Beschlagnahme seiner Werke im Rahmen der Aktion ›Entartete Kunst‹ und die Verhängung des Berufsverbots, die Nolde nach dem Krieg zurecht für sich beanspruchen konnte. Allerdings geriet über die Betonung der Verfemung seiner Kunst 1937/38 und der Unterbindung jeglicher professioneller Tätigkeit ab August 1941 in den Hintergrund, wie sehr Nolde kontinuierlich und intensiv um eine Rehabilitierung durch das NS-Regime bemüht war.23 Auch waren die Jahre nach 1937 – wie schon die Jahre zuvor – durch eine weitaus größere Unklarheit in Bezug auf seine Rolle im neuen Regime gekennzeichnet als bislang bekannt. Selbst hinsichtlich der Geschichte der Beschlagnahmung von Noldes Werken als ›entartet‹ mangelte es an einer genaueren historischen Aufschlüsselung: In kaum einer biografischen Übersicht fehlt der Verweis auf die Tatsache, dass Nolde mit 1052 beschlagnahmten Werken der am stärksten von der Aktion ›Entartete Kunst‹ betroffene Künstler war. Weniger bekannt ist dagegen, dass diese hohe Zahl sich überhaupt erst durch einen Ankauf ergab, der sich Anfang 1935 – also bereits in der NS-Zeit – ereignet hatte.24 Damals erwarb der Museumsverein des Museum Folkwang in Essen eine fast vollständige Nolde-Grafik-Sammlung. Sie stammte aus dem Nachlass des Elberfelder Sammlers Walter Schniewind. Knapp hundert weitere Blätter wurden zur Vervollständigung beim Künstler dazugekauft. Mit insgesamt ca. 455 Druckgrafiken war damit der größte Nolde-Ankauf zu verzeichnen, den es je gegeben hat. Bemerkenswert ist daran unter anderem, dass dies mit Billigung des NS-linientreuen Direktors Klaus Graf von Baudissin geschah, der rund zwei Jahre später, im Juli 1937, damit beauftragt wurde, für das von Bernhard Rust geleitete Erziehungsministerium die Besuche der ›Kommission für Werke deutscher Verfallskunst seit 1910‹ in den Museen zu begleiten.
Im Juli 1937 wurden von Nolde schließlich insgesamt 48 Werke, davon 33 Gemälde, aus öffentlichen deutschen Sammlungen nach München zur ersten Station der Propagandaschau Entartete Kunst transportiert. Als Hauptwerk, sowohl in München als auch auf den folgenden Stationen in Berlin, Leipzig, Düsseldorf und Salzburg, wurde Noldes neunteiliger Gemälde-Zyklus Das Leben Christi in Szene gesetzt. Dabei stammte das Werk nicht aus öffentlichem Besitz, sondern war als Leihgabe des Künstlers im Museum Folkwang in die Hände der Beschlagnahme-Kommission gelangt. Nolde versuchte in mehreren Briefen an höchste NS-Funktionäre sowie über einflussreiche Freunde, eine Rückgabe zu erwirken.25 Unter anderem wandte sich Noldes langjähriger Freund, der Schweizer Jurist Hans Fehr, an Staatssekretär Ernst von Weizsäcker im Auswärtigen Amt, um auf Noldes Status als Ausländer aufmerksam zu machen.26 Plausibel, dass überhaupt erst auf seine Eingabe hin dem Gesetz über die »Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst« ein Passus hinzugefügt wurde, der es ausländischen Staatsbürgern möglich machte, ihre Werke zurückzufordern. So konnte unter anderem Nolde als dänischer Staatsbürger seine für die Münchner Ausstellung eingezogenen Werke reklamieren. Dass die Rücksendung dieser Werke aus Privatbesitz Ende 1938 tatsächlich erfolgte und dass Anfang 1939 keine Gemälde Noldes mehr auf weiteren Stationen der Wanderausstellung Entartete Kunst gezeigt wurden, führten die Noldes – wohl zurecht – auf ihre vielfältigen Bemühungen zurück.27 Darüber hinaus gelang es Noldes dänischem Schwager, dem Kunsthändler Aage Vilstrup, im Frühjahr 1939 elf der aus öffentlichen Sammlungen entfernten Gemälde vom Propagandaministerium im Rahmen der »internationalen Verwertung« zu erwerben, einige davon erstattete er an Nolde zurück.28 Zweifelsohne war die Aktion ›Entartete Kunst‹ für Nolde eine Zäsur und insbesondere die Münchner Eröffnung am 19. Juli 1937 – kurz vor der geplanten Feier anlässlich seines 70. Geburtstags – ein Schock, doch gelang es ihm, das Schicksal einiger der beschlagnahmten Werke positiv zu beeinflussen und mit Hilfe seiner Bekannten auch aktiv auf den weiteren Verlauf der Kampagne Einfluss zu nehmen.
Die Wahrnehmung, dass ihm dies gelang, erklärt, warum Nolde in den Jahren 1939/40 hoffnungsvoll an seiner Rehabilitierung arbeitete, die seines Erachtens in Gang gesetzt schien; dazu gehörte im Herbst 1940 auch die Übermittlung eines langen Briefes mit Beilagen an Adolf Hitler, der nicht erhalten ist.29 Aus der Reichskanzlei kam jedoch keine Reaktion; die vollumfängliche Rehabilitierung, die Nolde mit diesem Brief anstrebte, gelang nicht. Dass er ausgerechnet in diesem Jahr – 1940 – trotz der weiterhin ungeklärten Situation mit rund 80.000 RM die höchsten Verkaufseinnahmen seiner Karriere erzielte, wurde ihm dagegen zum Verhängnis. Schon im Dezember 1940 forderte die Reichskammer der bildenden Künste von Nolde die Vorlage neuerer Arbeiten, mit Verweis auf die »Anordnung über den Vertrieb minderwertiger Kunsterzeugnisse«. Aus internen Schreiben geht hervor, dass die Höhe von Noldes Einkünften bereits im Frühjahr 1941 dazu führte, dass sein RdbK-Ausschluss gegenüber dem Reichssicherheitshauptamt bestätigt wurde, bevor dieser überhaupt erfolgt war.30 Erst nachdem Nolde im Juni 1941 Originale eingereicht hatte, die er nie zurückerhielt und die bis heute verschollen sind, erfolgte am 23. August offiziell die Mitteilung über den Ausschluss aus der Kammer. Für Nolde bedeutete dies ein Verkaufs-, Ausstellungs- und Publikationsverbot. Der offiziell kommunizierte Grund war seine »künstlerische Unzuverlässigkeit«, inoffiziell war aber höchstwahrscheinlich der Handlungsdruck, der wegen Noldes hoher Einkünfte auf dem Propagandaministerium lastete, der eigentliche Grund für den Ausschluss.31 Obwohl Nolde versuchte, über einflussreiche Bekannte und ein weitreichendes Netzwerk eine Aufhebung des Berufsverbots zu erreichen – unter anderem durch Kontaktaufnahme mit dem Wiener Reichsstatthalter Baldur von Schirach – blieb das Berufsverbot bis Kriegsende bestehen. Nach dem Krieg wurde Noldes Antrag auf finanzielle Entschädigung für die von der Reichskunstkammer einbehaltenen Arbeiten aufgrund seiner Parteimitgliedschaft abgelehnt.32
Noldes Antisemitismus
Der letzte Aspekt, der an dieser Stelle nur sehr verkürzt dargelegt werden kann, betrifft den Antisemitismus von Emil und Ada Nolde. Antisemitische Bemerkungen sind schon früh in Noldes Korrespondenzen dokumentiert. 1911 verglich er die angebliche Liaison zwischen »Malerjuden«, Kunstkritik und Kunsthandel mit einer »Schwammwucherung«.33 Ende 1931 griff er den antisemitischen Mythos vom ›Judäo-Bolschewismus‹ auf und sinnierte in einem Brief über dessen Beziehung zu einer kapitalistischen jüdischen Großstadtkultur. Er kritisierte den deutschen Impressionismus öffentlich als »Zwitterkunst«, unter anderem Anfang 1932 in seiner Verteidigung der kontroversen Auslandsausstellung Neuere Deutsche Kunst, die – von Mitarbeitern der Berliner Nationalgalerie organisiert – bewusst auf deutsche Impressionisten verzichtete. Im April 1933, kurz nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, forderte Nolde in einem Brief an Max Sauerlandt eine Scheidung innerhalb des Kunstwesens zwischen »jüdischer u[nd] deutscher Kunst, wie auch zwischen deutsch-französischer Mischung u[nd] rein deutscher Kunst«.34 Für Nolde war klar, dass sein Künstlertum mit den Ideen der nationalsozialistischen jungen ›Bewegung‹ vereinbar sei – besonders auch wegen ihres Antisemitismus. Im Frühjahr 1933 denunzierte er den Maler Max Pechstein bei einem Beamten im Propagandaministerium als ›Juden‹; daraufhin bekam er von der Preußischen Akademie der Künste offiziell mitgeteilt, dass Pechstein »rein arischer Abkunft« sei.35 In diesen Monaten arbeitete Nolde an einem ›Entjudungsplan‹, den er Hitler unterbreiten wollte.36 Der Plan wird in Briefen erwähnt, hat sich aber nicht erhalten. Einen Hinweis auf seine Vorstellungen zu einer territorialen Lösung der sogenannten ›Judenfrage‹ gibt Nolde im zweiten Band seiner Memoiren, Jahre der Kämpfe, der im Herbst 1934 erschien und diverse antisemitische Passagen enthält.37 Besondere Beachtung findet in diesem Buch die Schilderung seines Konflikts mit Max Liebermann und der Berliner Secession, die er nachträglich als »Auflehnung gegen die in allen Künsten herrschende jüdische Macht« stilisiert.38 Ende des Jahres 1934 bezieht sich ein Werbezettel des Rembrandt-Verlags ausführlich auf diese Episode, um das Buch mit Hilfe von Presse-Zitaten zu bewerben, die Nolde zum Beispiel als Vorkämpfer »gegen die erdrückende Diktatur des jüdischen Kunsthandels und der Vorherrschaft gegen die französisch-impressionistischen Kreise« preisen.39 Im September 1934 trat Nolde – als dänischer Staatsbürger – der Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft Nordschleswig (NSAN) bei, die im Jahr darauf durch die Gründung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Nordschleswig (NSDAPN) gleichgeschaltet wurde. Nolde verwies wiederholt auf seine Parteimitgliedschaft, unter anderem um Darstellungen in der Presse zu unterbinden, die ihn mit dem angeblich ›jüdischen Kulturbetrieb‹ der Weimarer Zeit assoziierten. Im Dezember 1938 verfasste er einen als Entwurf erhaltenen 6-seitigen Brief an NSDAP-Reichspressechef Otto Dietrich, der zahlreiche antisemitische Passagen enthält; Nolde war kurz zuvor in einer Tageszeitung zusammen mit jüdischen Protagonisten des kulturellen Lebens unter dem Titel »Der Feind im eigenen Land – Juden als Kulturbolschewisten« aufgezählt worden.40 Noldes Stellungnahme hatte Erfolg: Eine kurze Presseanweisung besagte am 8. Dezember, Nolde sei »kein Jude«, sondern sogar »P.g.«, Parteigenosse.41
Nolde Antisemitismus ist in dieser Reaktion – geschrieben einige Wochen nach den antijüdischen November-Pogromen 1938 – bereits stark ausgeprägt; im Laufe des Zweiten Weltkriegs steigerte er sich weiter. In diesen Jahren verfolgten Emil und Ada Nolde intensiv die Kriegsberichterstattung: Über ihr Radio und ihre Lokalzeitung empfingen sie täglich die NS-Propaganda. Auf einer Europakarte im Haus markierten sie den Verlauf der Kämpfe. Trotz des Berufsverbots von 1941 und Gerüchten über »furchtbare wahre Sachen aus Polen«, auf die Ada ihren Mann aufmerksam machte, hielten sie an ihren Überzeugungen fest.42 Die Korrespondenz des Ehepaars während zweier mehrmonatiger Klinikaufenthalte von Ada Nolde in Hamburg-Eppendorf 1942 und 1943 gibt Einblicke in die Weltanschauung und den Antisemitismus der Noldes.
Im Frühjahr 1943, nach der Entdeckung der Massengräber bei Katyn, wo polnische Offiziere 1940 vom sowjetischen NKWD erschossen worden waren, erreichte die nationalsozialistische Kriegspropaganda ihren antisemitischen Höhepunkt. Dies spiegelt sich auch in Noldes Aphorismen wieder, die der Künstler später – zusammen mit einer Auswahl seiner ›Ungemalten Bilder‹ – veröffentlichen wollte. Auf kleinen Zetteln hält er seine Gedanken zu Künstlertum, Gott und Weltgeschehen fest. Nach Ostern 1943 schickte er Ada in einem Brief vier dieser kleinen Blätter, in denen er sich selbst in einen großen welt- und religionshistorischen Prozess einschreibt. In ihnen kulminiert Noldes langjährige Selbststilisierung als verkannter Vorkämpfer gegen das Judentum. Auf einem weiteren der kleinen Notate von Mai 1943 führt er seine Vorstellungen über den Weltkrieg als einen »jüdischen Krieg« aus.43 Tatsächlich spielen in Noldes autobiografischer Arbeit diese tagebuchartigen Aphorismen, die später ›Worte am Rande‹ genannt werden, eine besondere Rolle. Die Notizen vom Frühling 1943 zeigen, wie stark sich Noldes Antisemitismus unter der Einwirkung der Kriegspropaganda radikalisierte. Die Aphorismen, die Nolde ab dem Frühjahr 1945 verfasste, zeugen dagegen sicher vom nachträglichen Versuch, sich von Hitler und der NS-Diktatur zu distanzieren.44 Nach Kriegsende vernichtete Nolde die meisten seiner politischen Betrachtungen, die vor Mai 1945 entstanden waren.45 Einige der Zettel entgingen diesem Selbstsäuberungsprozess wohl nur, weil sie – den Briefen an Ada beigelegt – vom Künstler vergessen wurden. Die bewusst erhaltenen ›Worte am Rande‹ waren ihm so wichtig, dass er testamentarisch verfügte, die von ihm geplante Veröffentlichung posthum zu realisieren.
Als nach dem Tod Noldes 1956 die Nolde Stiftung Seebüll eine wichtige Rolle bei der Konstruktion des öffentlichen Nolde-Bildes übernimmt, werden Neuauflagen von Noldes Memoiren von den gröbsten antisemitischen Passagen gesäubert, seine ›Worte am Rande‹ nur in Auszügen veröffentlicht, und auch problematische Aussagen in der im Nachlass aufbewahrten Korrespondenz bleiben unzugänglich.46
Auswirkungen auf das künstlerische Werk
Eine zentrale Frage, die sich im Rahmen der Forschungen stellt, ist, ob und inwiefern sich Noldes ideologische Überzeugung im künstlerischen Werk widerspiegelt.47 Wiederholt wurde als Entgegnung auf Noldes politische Haltung hervorgehoben, dass er in seiner Kunst keine Zugeständnisse an den Nationalsozialismus gemacht habe und daher autonom und ›widerständig‹ geblieben sei. Tatsächlich lassen sich jedoch nach 1933 eine Reihe von motivischen Veränderungen im Werk beobachten: So reagierte Nolde auf die Angriffe auf seine biblischen Figurenbilder, indem er nach 1934 keine religiösen Sujets – und damit auch keine Juden – mehr malte.48 An ihre Stelle traten zunehmend Motive aus der nordischen Sagenwelt: Könige, Krieger und langbärtige Wikinger. Insbesondere die Sammlung isländischer Königssagen von Snorri Sturluson inspirierte ihn. Schon vor 1914 führte die erste Lektüre dieses Buches zu einer Reihe von Werken mit Wikinger-Motiven; im Sommer 1936 vertiefte sich das Ehepaar Nolde erneut in diese nordische Sagenwelt. Wahrscheinlich als Reaktion auf die Ausstellung Entartete Kunst arbeitete Nolde im Sommer 1938 drei seiner kleinformatigen Wikinger-Aquarelle zu Gemälden aus. Diese entstanden zur selben Zeit, als Nolde seine Kunst in einem Protestbrief an Propagandaminister Joseph Goebbels als »deutsch, stark, herb und innig« charakterisierte.49 Weniger bekannt in Noldes Œuvre ist der mystisch anmutende Motivkreis von Bergen, Burgen und Opfer-Feuern, der Noldes Vorliebe für eine nordische Thematik besonders in den 1930er- und frühen 1940er-Jahren ergänzte.50 Seit seiner Zeit als junger Zeichenlehrer in St. Gallen in den 1890er-Jahren, als Nolde zu einem begeisterten Bergsteiger wurde, ließ den Künstler die Faszination durch die Bergwelt nicht mehr los. Nach einer Magenkrebs-Operation 1935 verbrachte das Ehepaar Nolde von 1936 bis 1941 fast jedes Jahr einige Wochen in den Alpen, wo Nolde auch aquarellierte. Die zahlreichen Burgruinen und Bergkapellen in Graubünden und Vorarlberg befeuerten seine romantische Fantasie. Hinzu kommt – vermutlich nach Kriegsausbruch 1939 – eine Faszination für Feuer und Zerstörung. Einige der Aquarelle mit eindeutig nordischer Thematik übertrug Nolde um das Jahr 1940 in Öl. Drei solcher Gemälde platzierte er prominent im Bilderraum (heute als Bildersaal bezeichnet) in Seebüll: Das Heilige Feuer, Heiliges Opfer und Veteranen. Bei der auf der Grundlage von Dieter Hohlys Erlebnisbericht erfolgten Rekonstruktion dieser Hängung vom Februar 1942 fällt auf, dass Gemälde aus den Jahren von 1903 bis 1918 – also der Hochphase des Expressionismus und der Entstehungszeit vieler religiöser Bilder – weitgehend fehlten.51 So lässt sich feststellen, dass Nolde in der NS-Zeit sowohl in der Motivwahl als auch in der künstlerischen Selbstdarstellung neue Schwerpunkte entwickelte.
Die Autoren
Bernhard Fulda
lehrt und forscht als Chatong So Fellow und Director of Studies in History am Sidney Sussex College der Universität Cambridge. Nach einem Studium der Geschichte in Oxford promovierte er 2009 in Cambridge zum Thema Presse und Politik in der Weimarer Republik. Unter seinen Publikationen zu Medien-, Politik- und Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts ist besonders die zusammen mit der Kunsthistorikerin Aya Soika verfasste Biographie Max Pechsteins zu erwähnen (Max Pechstein. The Rise and Fall of Expressionism, 2012). Seit 2013 arbeitet er an dem Forschungsvorhaben »Emil Nolde und der Nationalsozialismus«, das in Kooperation mit der Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde und dem Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin durchgeführt und von der Alexander-von-Humboldt Stiftung sowie der Gerda Henkel-Stiftung gefördert wurde. 2019 konzipierte er die Ausstellungen Emil Nolde – eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus (mit Aya Soika und Christian Ring, für die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin). Er ist Autor und Mitherausgeber der begleitenden Publikationen. In Planung ist eine Nolde-Biografie.
Aya Soika
Studium der Kunstgeschichte in Berlin und in Cambridge, lehrt seit 2005 Kunstgeschichte am deutsch-amerikanischen Bard College Berlin. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Klassischen Moderne. 2011 erschien das zweibändige Werkverzeichnis der Ölgemälde Max Pechsteins, 2012 gemeinsam mit Bernhard Fulda die Biografie Max Pechstein. The Rise and Fall of Expressionism. 2014 veröffentlichte sie die Studie Weltenbruch. Die Künstler der Brücke im Ersten Weltkrieg. 1914 bis 1918, 2016 das Buch Der Traum vom Paradies. Max und Lotte Pechsteins Reise in die Südsee und verantwortete die gleichnamigen Ausstellungen. 2019 konzipierte sie die Ausstellungen Emil Nolde – eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus (mit Bernhard Fulda und Christian Ring, für die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin) und Flucht in die Bilder? Die Künstler der Brücke im Nationalsozialismus (mit Meike Hoffmann und Lisa Marei Schmidt für das Brücke Museum, Berlin). Sie ist Ko-Autorin und Mitherausgeberin der begleitenden Publikationen.
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1 Emil Nolde – eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus. Essay- und Bildband, Ausst.-Kat. Nationalgalerie Berlin 2019, hrsg. von Bernhard Fulda, Christian Ring und Aya Soika für die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin und die Nolde Stiftung Seebüll, München 2019 (im Folgenden abgekürzt als Bd. 1); Emil Nolde – eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus. Chronik und Dokumente, Ausst.-Kat. Nationalgalerie Berlin, hrsg. von Bernhard Fulda, Christian Ring und Aya Soika für die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin und die Nolde Stiftung Seebüll, München 2019 (im Folgenden Bd. 2).
2 Zu den seit den 1990er-Jahren erschienenen Artikeln vgl. die Zusammenstellung in Christian Ring, »Vorwort«, in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 2 (wie Anm. 1), S. 9–13, hier S. 12–13, Anm. 4 und 5. Zur Städel-Retrospektive vgl. Emil Nolde. Retrospektive, hrsg. von Felix Krämer, Ausst.-Kat. Städel Museum Frankfurt a. M., München 2014. Darin bereits eine Zusammenfassung der vorläufigen Forschungsergebnisse: Bernhard Fulda und Aya Soika, »›Deutscher bis ins tiefste Geheimnis seines Geblüts‹. Emil Nolde und die nationalsozialistische Diktatur«, in: ebd., S. 45–55.
3 Exemplarisch sei der hervorragende Text von Uwe Danker genannt, »›Vorkämpfer des Deutschtums‹ oder ›entarteter Künstler‹? Nachdenken über Emil Nolde in der NS-Zeit«, in: Demokratische Geschichte, 14 (2001), S. 149–188.
4 Als dänischer Staatsangehöriger trat Nolde der NSAN bei, die im Sommer 1935 in der NSDAP Nordschleswig aufgeht.
5 Ada Nolde an Hans und Ruth Gallwitz, 26.1.1942, Kopie, Archiv der Nolde Stiftung Seebüll (ANS). Vgl. Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 2 (wie Anm. 1), S. 192. Vgl. auch Bernhard Fulda, »Noldes Antisemitismus«, in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 97–114, hier S. 108.
6dolf Behne, »Epilog zur Nolde-Ausstellung«, in: Berlin am Mittag, Nr. 184, 10.9.1947, SMB-Zentralarchiv, V/Künstlerdokumentation Emil Nolde. Abdruck in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 2 (wie Anm. 1), Dok. 98, S. 266.
7 Deutscher Entnazifizierungsausschuss, Kiel, Beschluss vom 13.8.1946, Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 460.19, Nr. 741.
8 Vgl. bes. Bernhard Fulda, »Die Entstehung einer deutschen Nachkriegslegende«, in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 2 (wie Anm. 1), S. 221–244.
9 Ebd., S. 223–224. Vgl. auch Bernhard Fulda, »Noldes Krieg«, in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 137–175, bes. S. 156.
10 Karl Gutbrod an Joachim von Lepel, 27.11.1961. Vgl. Fulda, »Nachkriegslegende« (wie Anm. 8), S. 235.
11 Zit. n.: Erich Maletzke, Siegfried Lenz. Eine biographische Annäherung, Springe 2006 (2. Aufl.), S. 94–95.
12 Vgl. Bernhard Fulda, »Die ›Ungemalten Bilder‹: Genese eines Mythos«, in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 179–217, bes. S. 179.
13 Ebd. S. 180. Vgl. auch Bernhard Fulda, »Noldes Autobiografie: Das verkannte Genie im Kampf um die deutsche Kunst«, in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 69–92, hier S. 89–90.
14 Fulda, »Die ›Ungemalten Bilder‹«, Bd. 1 (wie Anm. 12), S. 179–217.
15 Vgl. ebd. S. 203–207.
16 Ebd., S. 199.
17 Ebd., S. 200.
18 Dieter Hohly, Erlebnisbericht von Februar 1942, ANS. Zit. n.: ebd., S. 154.
19 Emil Nolde, Manuskript zu Reisen, Ächtung, Befreiung, ANS. Zit. n.: ebd., S. 179.
20 Die Bedeutung und die Konsequenzen des Berufsverbots wurden bereits 2016 analysiert. Vgl. Bernhard Fulda, »Emil Noldes Berufsverbot: Eine Spurensuche«, in: Anja Tiedemann (Hrsg.), Die Kammer schreibt schon wieder! Das Reglement für den Handel mit moderner Kunst im Nationalsozialismus, Schriften der Forschungsstelle ›Entartete Kunst‹, Bd. 10, Berlin 2016, S. 127–145.
21 Vgl. Fulda, »Noldes Krieg« (wie Anm. 9), bes. S. 148–149.
22 So sind auf 14 der insgesamt 15 zwischen 1941 und Ende 1944 entstandenen Gemälde Blumen dargestellt. Erst nach dem Kriegsende malt Nolde wieder figürliche Gemälde – aber keine erkennbar ›nordischen‹ Motive mehr. Insgesamt beruhen etwa 50 der rund 100 Gemälde aus den Jahren von 1945 bis 1951 auf kleinformatigen Aquarellen als Bildvorlagen.
23 Vgl. Aya Soika, »Emil Nolde und die Wanderausstellung Entartete Kunst«, Emil Nolde in seiner Zeit. Im Nationalsozialismus, Tagungsband zum Symposion veranstaltet von der Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde in Kooperation mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, München 2019, S. 30–53, bes. S. 43–45.
24 Vgl. Aya Soika, »Der lange Expressionismusstreit um Nolde«, in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 39–65, hier S. 57.
25 Briefe gingen an Adolf Ziegler als Präsidenten der RdbK, Bernhard Rust und Joseph Goebbels. Vgl. Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 2 (wie Anm. 1), Dok. 38, S. 123, Dok. 46, S. 134.
26 Vgl. Hans Fehr an Emil Nolde, 13.2.1938, mit Brief von Friedrich Stieve an Hans Fehr, 31.1.1938, ANS. Abdruck in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 2 (wie Anm. 1), Dok. 44, S. 131.
27 Vgl. Soika, »Wanderausstellung Entartete Kunst« (wie Anm. 23).
28 Ebd. Vgl. auch Aage Vilstrup an Rolf Hetsch, RMVP, 3.2.1939, Durchschrift, ANS. Abdruck in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 2 (wie Anm. 1), Dok. 50, S. 158.
29 Vgl. Fulda, »Noldes Krieg« (wie Anm. 9), bes. S. 141.
30 Vgl. ebd., S. 140–148. Vgl. auch Fulda, »Berufsverbot« (wie Anm. 20).
31 Ebd.
32 Bescheid Landesentschädigungsamt Schleswig-Holstein, 25.6.1954, ANS. Vgl. Fulda, »Nachkriegslegende« (wie Anm. 8), S. 235.
33 Vgl. Fulda, »Noldes Antisemitismus« (wie Anm. 5), S. 97.
34 Emil Nolde an Max Sauerlandt, 8.4.1933, ANS. Ebd., S. 101. Vgl. auch Ausst.-Kat. 2019, Bd. 2 (wie Anm. 1), Dok. 10.
35 Vgl. August Kraus, PrAdK, an Emil Nolde, 17.10.1933, Durchschrift, Akademie der Künste, Historische Archive, PrAdK 1104/118. Abdruck in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 2 (wie Anm. 1), Dok. 16, S. 67.
36 Fulda, »Noldes Antisemitismus« (wie Anm. 5), S. 102–105.
37 Emil Nolde, Jahre der Kämpfe, Berlin 1934, S. 124.
38 Ebd., S. 149.
39 Fulda, »Noldes Autobiografie« (wie Anm. 13), S. 86, Abb. S. 85.
40 Emil Nolde, Erklärung, Brief an Reichspressechef Otto Dietrich und andere Stellen im RMVP, 6.12.1938, Durchschrift (Entwurf) an Hans Fehr, ANS. Abdruck in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 2 (wie Anm. 1), Dok. 48, S. 137–139.
41 Ebd., Kommentar auf S. 137.
42 Ada Nolde an Emil Nolde, o. D. [24.5.1943], ANS. Abdruck in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 2 (wie Anm. 1), Dok. 81, S. 224.
43 Vgl. Fulda, »Noldes Antisemitismus« (wie Anm. 5), bes. S. 108–113.
44 Vgl. Fulda, »Noldes Krieg« (wie Anm. 9), bes. S. 170–171.
45 Vgl. Fulda, »Nachkriegslegende« (wie Anm. 8), S. 225–226.
46 Werner Haftmann, Emil Nolde. Ungemalte Bilder. Aquarelle und »Worte am Rande«, hg. von der Stiftung Ada und Emil Nolde, Köln 1963.
47 Vgl. Bernhard Fulda, »Juden, Phantasien und Wikinger«, in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 119–133.
48 Vgl. ebd., S. 120–121. Vgl. auch Emil Nolde, Typoskript/Durchschrift an Hans Fehr, Entwurf, 6.12.1938, ANS. Vgl. Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 2 (wie Anm. 1),
Dok. 48, S. 137–139. In der Verteidigung erklärte er seine frühere Herangehensweise: »Es wird gesagt, dass ich Bilder mit Darstellungen von Juden gemalt habe. […] Und die Juden habe ich als Juden gemalt, wie es doch auch war. Mein Wahrheitstrieb jedoch passte ihnen nicht, sie wollten die Pharisäer und Apostel und Christus als vornehme arische Bürger und Gelehrte – wie es bisher war – gemalt sehen. Diesen zweitausendjährigen Irrtum in der Kunst habe ich – neben dem Künstlerischen – mir das Recht genommen beseitigen zu wollen. Und keines meiner biblischen Bilder hat in einem jüdischen Haus seinen Platz gefunden.«
49 Vgl. Emil Nolde an Joseph Goebbels, 2.7.1938, Abschrift Bundesarchiv R55/21014, Bl. 64. Abdruck in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 2 (wie Anm. 1), Dok. 46, S. 134.
50 Vgl. Bernhard Fulda, »Berge, Burgen und Feuer«, in: Ausst.-Kat. Berlin 2019, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 160–163.
51 Tatsächlich hatte sich Nolde in den Vorjahren zunehmend durch die autobiografische Herausarbeitung seines Antisemitismus von den biblischen Sujets entfernt. Vgl. Fulda, »Juden, Phantasien und Wikinger« (wie Anm. 47), S. 121.